Praxis für Physiotherapie und Körperarbeit

Annelies Drick-Süßmeier

Jeder Mensch ist ein Individuum, jeder Mensch ist einmalig. Für mich etwas Faszinierendes. Deshalb ist auch jedes Krankheitsgeschehen für mich etwas Einmaliges, Individuelles. Aber die Gesellschaft macht, weil sie auf individuelle Bedürfnisse nicht mehr eingehen kann, den Menschen krank. Gerade hier sehe ich die Bedeutung und den Wert meiner Be-Hand-lung. Dabei erlebe ich meine Arbeit oft als menschliche Begleitung für die eine oder andere Zeitspanne im Leben des Patienten.

Im Lauf der Jahre haben sich die „Anschauungen”, mit denen ich den Patienten und sein Krankheitsgeschehen betrachte und zu verstehen versuche, verfeinert. Ausgangspunkt ist für mich immer der Körper des Patienten, und meine Wahrnehmung: das, was ich sehe, höre, erfrage – und vor allem das, was ich fühle! Das ist natürlich immer von meinen Erfahrungen abhängig. Etwas, was ich noch nicht gesehen habe, nicht kenne oder erkennen kann, werde ich nicht sofort verstehen und zuordnen können.

Es ist für mich wichtig, zu erkennen und zu verstehen: Wo lebt der Patient nicht in Einklang mit sich selbst, mit dem „Bild”, das er zeigt? Wo fällt „etwas” heraus oder auf? Zum Beispiel: Wo spricht der Körper eine andere Sprache als der Geist? Welche seelische Grundhaltung korrespondiert mit den Symptomen? Welche Sprache spricht die Krankheit? Der Körper des Patienten ist mir dabei wie ein Buch, in dem ich lese. Genauso wie sein Geburtshoroskop mir mitteilt, was da „sein” könnte. Aber ich werde mich immer vergewissern, ob es deckungsgleich mit der Wahrnehmung des Patienten ist.

Ein Patient sagt zum Beispiel: „Seit dem Tod meines Partners bin ich nicht mehr auf die Füße gekommen.” Das deutet eher auf eine seelische Belastung als Ursache für das Krankheitsgeschehen, das aber trotzdem über körperliche Be„Hand”lungen, die bis ins Seelische wirken, wieder ins Gleichgewicht kommen kann. Ein anderer sagt: „Kurz nach dem Tod meines Partners hatte ich einen schweren Unfall, das hat mir das Genick gebrochen.” Hier muss man sich vermutlich wirklich die physische Komponente genau ansehen: Wo ist dieser Körper „gebrochen”, auch wenn der Unfall vielleicht zunächst eine Folge des seelischen Schocks war? Man muss hier also auf der körperlichen Ebene suchen und behandeln.

Es gibt Ebenen im Menschen und im Körper, die man als Therapeut nicht sieht, die aber auch der Patient nicht wahrnehmen kann. Viele innere und äußere Verletzungen hat der Patient im Lauf des Lebens vergessen. Erst während der Behandlung „meldet” sich die eine oder andere. Die Osteopathie spricht davon, dass es so etwas wie eine Erinnerung des Körpergewebes gibt! Physischer und psychischer Stress speichert sich in der Muskulatur, genauso wie alte Narben immer sichtbar bleiben. Das ist wirklich erfahrbar. Zum Beispiel: Ich untersuche einen Patienten und fühle, an der Schulter ist irgend etwas. Mittels exakter osteopathischer Tests suche ich zunächst eine Bestätigung für mein „Fühlen” zu finden. Mein Emp-„Finden” kann sich dann durch Nachfragen beim Patienten bestätigen. Eine häufige Antwort ist dann vielleicht: „Ach ja, die war mal gebrochen, aber das ist schon in meiner Kindheit gewesen.” Oft ist der Vorgang zwar vergessen, aber das Trauma noch präsent.

Für mich geht es darum, das kleinste aus der Ordnung gefallene Teil zu suchen und wieder an seine Stelle zurückzuführen. Während der Behandlung kann ich manches empathisch mitempfinden. Manches durchleide ich dabei selbst. Aber immer wieder suche ich die therapeutische Distanz: Abstand, um Klarheit zu behalten. Meiner Ansicht nach kann kein Therapeut heilen, sondern nur mit dem Patienten zusammen etwas erarbeiten, fördern und anregen: den inneren Arzt des Kranken aktivieren und die Selbstheilungskräfte stimulieren.

Ein erfolgreicher Therapieprozess ist ein lebhafter Austausch zwischen Therapeut und Patient. Dieser Austausch muss nicht zwingend auf der verbalen Ebene stattfinden. In der Therapie bin ich auf die Mithilfe und kontinuierliche Mitarbeit des Patienten angewiesen. Er selbst ist der Schlüssel zu seinem Problem. Ein Therapieprozess ist „Arbeit” für den Therapeuten, aber auch für den Patienten.

Jeder Mensch, auch der „Gesunde”, sollte seinen Körper achten, die Grenzen seiner physischen Möglichkeiten einschätzen lernen und trotzdem bis an die Grenze gehen. Es gehört zur menschlichen Reife, für sich und seinen Körper Verantwortung zu übernehmen. Diese Aufgabe ist nicht auf ein „Gesundheitssystem” oder einen Therapeuten übertragbar.

zurück